Sie hat es ganz nach oben geschafft. Sie gehört zu den Superreichen, verkehrte in den besten Kreisen der bulgarischen Hauptstadt, feierte ihren Geburtstag in einem berühmten Londoner Museum. Der Champagner floss in Strömen. Tom Jones stand auf der Bühne und sang ein Geburtstagsständchen. Sie besitzt eine Yacht, eine Villa am Schwarzen Meer. Und seit fast drei Jahren ist sie die einzige Frau auf der Liste der zehn meistgesuchten Verbrecher des FBI. Ruja Ignatova, die selbsternannte Kryptoqueen, die in Schramberg aufgewachsen und zur Schule gegangen ist. Nun haben sich eine junge Rechtswissenschaftlerin und ein Diplom-Jurist mit Ignatovas Psyche aus kriminologischer Sicht beschäftigt. In der angesehenen Zeitschrift Legal Tribune Online (LTO) befassen sich Katharina Reisch und Tim Nicklas Festerling mit Ignatovas Werdegang und analysieren ihre Persönlichkeitsstruktur.
Schramberg. Die beiden finden „besonders brisant“, dass Ignatova eigentlich aus ihren Kreisen stammt. „Sie ist Juristin, mit Abschlüssen aus Konstanz und Oxford.“ Sie erinnern an ihre Doktorarbeit aus dem Jahr 2005 über ein europarechtliches Thema, die sie an der Universität Konstanz geschrieben hatte. Ihr Ziel, mit 30 die erste Million Euro auf dem Konto zu haben, habe sie „mit hoher krimineller Energie geschafft“.
Gibt es eine Betrügerpersönlichkeit?
Die LTO-Autorin Reisch und ihr Kollege Festerling gehen der Frage nach, ob es so etwas wie eine Betrügerpersönlichkeit gebe und welche Eigenschaften Betrügern zugeschrieben würden. Und sie überlegen: „Warum beging Ignatova diesen Milliardenbetrug?“
Ihre Recherche starten sie In Waltenhofen, der Allgäuer Gießerei, die Ruja gemeinsam mit ihrem Vater Plamen im Jahr 2010 aus einer Insolvenz herausgekauft hat. Die Verträge ausgearbeitet hat bekanntlich Ignatovas Ehemann und ebenfalls Jurist Björn S. – was den beiden Autoren der LTO entgangen ist.

Die Gießerei-Firma haben die beiden Ignatovs nach allen Regeln der Kunst ausgeplündert. Wegen Insolvenzverschleppung verurteilte sie das Amtsgericht Augsburg im Frühjahr 2016 zu einer saftigen Strafe von 14 Monaten auf Bewährung und 16.000 Euro Geldstrafe. Einen Monat vorher hatte Ruja Ignatova ihren großen Auftritt in der Wembley Arena in London, einen Monat später kaufte sie sich das 20-Millionen-Euro teure Penthouse plus „Einliegerwohnung“ für die Bodyguards in Kensington.

„Günstige Sozialprognose“ mitten im größten Betrug
Das Gericht in Augsburg hat diese Seite von Ignatova als Kryptoqueen nicht gekannt oder ausgeblendet. Jedenfalls gab es eine „günstige Sozialprognose“. Im Urteil heißt es, es sei zu erwarten, dass sie „auch ohne Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen“ werde.
Dabei hatte sie damals schon zwei Jahre lang mit der frei erfundenen Kryptowährung die ersten Milliarden gescheffelt und Millionen naive und auch geldgierige Menschen weltweit abgezockt. Ab September 2014 gab es im Internet schon zahlreiche kritische Kommentare zu OneCoin. Fazit auf BehindMLM zu OneCoin damals: „…those running the scheme will simply disappear“, also, die, die das Ding betreiben, werden einfach verschwinden. Es waren Sebastian Greenwood und Ruja Ignatova.

Auf die Frage von Greenwood, was passiert, wenn das OneCoin-Schneeballsystem zusammenbricht, hatte Ignatova den berühmten Satz geantwortet: „Take the money and run, and blame someone else for it.“ (Nimm das Geld, verschwinde und gib die Schuld jemand anderem.) Eine kurze Google-Suche hätte gereicht, und das Augsburger Gericht wäre vielleicht zu einem anderen Urteil gelangt.
Große Chancen …
Reisch und Festerling berichten über den weiteren Aufstieg Ignatovas, ihr Untertauchen am 25. Oktober 2017 und wie sie auf die FBI-Liste der zehn meistgesuchten Verbrecher gelangt ist. Sie fragen, wie das passieren konnte und haben ein paar Antworten aus der Kriminologie: Zunächst stellen sie fest, eigentlich begingen „ganz überwiegend Männer“ Wirtschaftsstraftaten. Insofern sei Ignatova ein „Sonderfall“.
Bei ihr habe es viele kriminalitätsbegünstigende Faktoren gegeben: „Sie war stark motiviert, einen hohen finanziellen Gewinn zu erzielen und dadurch ein schillerndes Leben zu führen.“ Neben dem Geld auf dem Konto habe sie besonders der gesellschaftliche Status gereizt.
.. wenig Risiko
Auf der anderen Seite des Betrugs haben krypto- und anlageunerfahrene Menschen als geeignete Opfer gestanden. Das Schneeballsystem, auf dem OneCoin aufbaute, sei nicht so einfach zu erkennen gewesen, meinen die LTO-Autoren. Auch habe es zu der Zeit noch keine Schutz- und Kontrollmöglichkeiten bei den damals noch neuen Kryptowährungen gegeben.
„Ihre Tatgelegenheit war also äußerst günstig, bei insgesamt überschaubarem Risiko.“ Ignatova habe wohl ganz rational abgewogen „zwischen einem geringen Zeit- und Kostenaufwand, einer geringen Entdeckungswahrscheinlichkeit oder zumindest einer geringen (bis heute bewahrheiteten) Strafvollstreckungswahrscheinlichkeit einerseits und den exorbitanten Gewinnen, Ruhm und Macht andererseits“.
Kreativ, selbstbewusst und manipulativ
Reisch und Festerling nennen Eigenschaften, die Betrügerinnen und Betrüger häufig kennzeichneten: Intelligenz, Kreativität, starkes Selbstbewusstsein, manipulative Fähigkeiten, die Fähigkeit zu Lügen und Stressresistenz. Schaut man Rujas Abiturs-Jahrbucheintrag aus dem Jahr 1999 unter diesem Blickwinkel an, sind all diese Eigenschaften zu finden.

Sie hatte große Fantasie, ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein, log, dass sich die Balken bogen, manipulierte ihre Mitschüler und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
In der LTO nennen die Juristen weitere Eigenschaften, die eine international tätige Betrügerin brauche: perfekte Sprachkenntnisse, ausgezeichnete Branchen- und Milieukenntnisse und ein gediegenes Auftreten. Alle drei Voraussetzungen habe Ignatova erfüllt: “Sie würde auf der Checkliste der internationalen ‚Betrügerpersönlichkeiten‘ vermutlich die volle Punktzahl mit einem Glitzersticker erhalten.“
Neben diesen Fähigkeiten sprechen die Autorin und der Autor von einer „dunklen Triade“ von weiteren Eigenschaften, die ein kriminalitätsbegünstigender Faktor sein könnten: Narzissmus, Machiavellismus und Dissozialität.
Den Narzissmus sehen die beiden in Ignatovas Auftreten bei OneCoin-Events wie in der Wembley Arena belegt. Auch die kult- und sektenartige Verehrung ihrer Anhänger mit dem eigenen OneCoin-Symbol befriedige den Narzissmus der Kryptoqueen.

Ihr offensichtlicher Mangel an Empathie für die Opfer des Betrugs seien typische machiavellistische und dissoziale Eigenschaften. “Sie führen dazu, dass jemand die Opfer als Menschen und die Folgen der Taten gut ausblenden kann.“
Schicksale der Opfer hätten sie wohl völlig kalt gelassen, vermuten Reisch und Festerling: „Frei nach dem Motto: Dann sollen sie doch Krypto essen.“ Dass der OneCoin-Kryptobetrug auch nach Ignatovas Verwinden einfach so weiterläuft und bis heute stattfindet, verblüfft die beiden. Es bleibe „ein großes Fragezeichen“ endet der Artikel in LTO.
Was gibt es Neues aus der OneCoin-Welt?
In der OneCoin-Welt, heute heißt der Schwindel OneEcoSystem, hat sich in den vergangenen Wochen und Monaten doch einiges getan.
Dilkinska ist frei
Zum einen hat die einstige Top-Juristin von OneCoin und Ignatova-Vertraute Irina Dilkinska ihre vierjährige Haftstrafe in den USA verbüßt. Die Nummer drei im OneCoin Imperium nach Ruja Ignatova und Sebastian Greenwood hatte in Sofia die Führung übernommen, als Ignatova Ende Oktober 2017 untergetaucht war. Im Verfahren in den USA hatte sie ihre Rolle deutlich heruntergespielt und war mit vier Jahren im Vergleich zu Greenwoods 20 Jahren glimpflich davon gekommen.

Seit dem 12. Februar wird sie nicht mehr im US-Gefangenenregister aufgeführt. Einem Antrag ihrer Verteidiger war Richter Edgardo Ramos nachgekommen. Sie hatten gebeten, dass die Zeit, die Dilkinska in bulgarischer Auslieferungshaft gesessen hat, auf die Strafe angerechnet wird. Über ihren Aufenthalt ist nichts offiziell bekannt. Auf BehindMLM, dem Blog, der sich seit vielen Jahren unter anderem mit dem OneCoin-Betrug befasst, vermutet man, sie sei wieder in Sofia.
Ventsislav Zlatkov ist seinen Chefposten los
Ebenfalls „draußen“ ist der OneEcoSystem CEO Ventsislav Zlatkov. Im Februar-„Newsletter“ teilt OneEcoSystem mit, man habe im angeblichen Hauptquartier in Hanoi wichtige Diskussionen geführt über das Erreichte und zukünftige Ziele. Dabei sei man zum Schluss gekommen, es brauche einen „Wechsel in der Führung“.

Dort heißt es: „We express our sincere gratitude to Mr. Ventsislav Zlatkov for his invaluable contributions and unwavering commitment to our community.“ Man sei Zlatkov sehr dankbar für seinen unschätzbaren Beitrag und uneingeschränkten Einsatz für unsere Gemeinschaft. Wer ihm an der Spitze nachfolgt, bleibt offen.
In Ostasien Neuaufbau
Dass sich OneCoin oder OneEcoSystem zunehmend Richtung Ostasien orientiert, zeigt zum einen der mutmaßliche Umzug nach Hanoi. Zum anderen, dass die Vietnamesin Mai Loan ganz in den Vordergrund geschoben wird. Sie ist zum einen Mitglied International Global Council für Ostasien, Black Diamond, dem höchsten Rang bei OneEcosystem und Führungsfigur in der Handelsplattform „DealShaker“.

Aus Europa war bis vor einem Monat nur noch der Finne und OneCoin-Urgestein Tommi Vuorinen und eine Frau aus dem Baltikum zu sehen. Ihre Seite ist inzwischen leer.
Immer noch die Frage aller Fragen: Wo Ist Ruja Ignatova?
Ruja Ignatova bleibt verschwunden. Auf der FBI-Liste der zehn meistgesuchten Verbrecher wird sie immer noch geführt. Mit fünf Millionen Dollar Kopfgeld liegt sie nur hinter einem Drogendealer, für den zehn Millionen Dollar geboten werden.

Im bulgarischen Fernsehen wird ihr Verschwinden und ihr vermeintliches Kryptoimperium häufiger thematisiert. Zahlreiche Videos sind im Internet zu finden. Auch dort wird fleißig spekuliert, wo sie sich verstecken könnte. Interessanter sind die Kommentare, die unter solchen Videos auf YouTube zu lesen sind.
Heldinnenverehrung in Bulgarien
Bulgarische Stimmen zu Ruja sind oft erstaunlich positiv: „Ich hoffe, die Frau ist lebendig und wohlauf, wenn sie den Verstand hätte, die Narren auszurauben“, kann man da lesen. Oder: „Halte dich fest, Ruja, gib ihnen nicht nach. Dieses Geld stammt nicht von Minern und Arbeitern.“ Ignatova als eine Art weiblicher Robin Hood? Passt nicht, denn sie hat es oft den Armen genommen und für sich verbraucht – oder irgendwo gebunkert.

Da fällt ein kritischer Kommentar zu ihrem Bruder Konstantin schon auf: „ab! @fragance7768“ findet die vielen positiven Kommentare traurig: „Oh, aber er ist einfühlsam! Oh, aber er hat in einem Hundeheim gearbeitet! Oh, aber er hat im Gefängnis so viel gelitten! Oh, aber er ist jetzt allein, ganz allein in Bulgarien!“
ab! @fragance7768 fragt, ob man wirklich diesem Ex-Sträfling, Mittäter und Blutsverwandten der meistgesuchten Hochstaplerin der Welt abnehmen wolle, dass er Buße getan und sich einer Katharsis unterzogen hat? Dieses Bild eines „einfachen Kriminellen“ sei „nicht nur banal, sondern für die Menschen geradezu beleidigend“.
Die Kommentatoren erörtern auch, die Fünf-Millionen-Dollar-Frage: Wo ist Ignatova? „Suchen Sie sie in Russland!“, schlägt ein Kommentator vor. Ein anderer hat diese Idee: „Die Theorie, dass Ruja zu Rujo geworden ist, hat sich eingeschlichen… Mai-Mai… Sie hat vielleicht ihr Geschlecht gewechselt, ein Land gekauft…, ist am Leben und wohlauf, wenn sie einen Verstand hat❤❤❤.“ Ein weiterer hat diesen Tipp: „Warum fragen Sie nicht Emil Harsev, der Rujas Vermögen verwaltet?“
Emil Manolov Harsev und Ralf Paulick
Eine interessante bulgarische Figur, dieser Emil Manolov Harsev. Er hat tatsächlich Immobilien von Ruja Ignatova nach deren Untertauchen vermarktet, wie bulgarische Journalisten herausgefunden haben. Harsev besitzt aber auch ein Hotel im thüringischen Suhl. Das Vier-Sterne „Grandhotel“ hat er Anfang der 2010er Jahre gekauft.
In Suhl lebt und arbeitet auch Ralf Paulick. Er war einer der ganz großen OneCoin-Netzwerker, hatte den zweithöchsten Rang eines Blue Diamond und war immer wieder mit Ignatova zu sehen. Ob über ihn die Verbindung Harsev – Ignatova zustande gekommen ist? Oder hat Harsev umgekehrt Ralf Paulick auf OneCoin aufmerksam gemacht?

War Ignatova in Hamburg?
Gesehen wollen haben sie schon viele, wie Jamie Bartlett („The Missing Cryptoqueen“) im Mai 2024 erzählt. In Hamburg hat es demnach sogar eine Festnahmeaktion am 15. Mai 2024 am Hauptbahnhof gegeben. Zeugen hatten in einem Zug von Osnabrück eine Frau gesehen, die genau wie Ignatova ausgesehen habe. Sie hatten die Polizei alarmiert.
Ein Dutzend Bundespolizisten hätten diese Frau und ihren Begleiter abgeführt. Die Polizei in Nordrhein-Westfalen habe ihm die Festnahme der Frau bestätigt, berichtete Bartlett: Allerdings sei sie gleich wieder freigekommen. Es habe sich um eine Verwechslung wegen „äußerlicher Ähnlichkeiten“ gehandelt. Die Festgenommene sei „zweifelsfrei nicht die Person, nach der wir suchen“.

Im folgenden berichtet Bartlett von „sicheren“ Sichtungen Ignatovas, die ihm Leute zugetragen hätten: In einer Strandbar in Griechenland, in einem schicken Auto in London, nach einer geschlechtsumwandlungs-OP in Brasilien, in einer Strandhaus in Thailand, in einem Einkaufszentrum in Sidney oder bei der Ankunft im Londoner Flughafen Heathrow.
Was macht Ignatovas Bruder Konstantin?
Ruja Ignatovas Bruder Konstantin Ignatov geht es, wenn man seinem Instagram-Account und einem Podcast Glauben schenken mag, bestens. Auf Instagram postet er regelmäßig Fotos. Zahlreiche Fans liken seine Beiträge, etwa ein Bild von Silvester 2024: Er zeigt sich in Palma de Mallorca mit seiner Freundin knutschend.

Am 15. Februar feierte er seinen 39. Geburtstag. Im besagten Podcast macht er sich über einen „Journalisten im Schwarzwald“ lustig und lädt mich zu einem Spaziergang in Sofia ein. Auf ein Gesprächsangebot meinerseits hat er allerdings dann doch lieber nicht reagiert.
Ignatova bleibt interessant
In den überregionalen Medien bleibt das Interesse am Thema OneCoin und Ruja Ignatova erhalten. Das ZDF wiederholt die Doku über die drei Großbetrüger Ruja Ignatova, Jan Marsalek und Anna Sorokin am 13. April im Hauptprogramm. Im Herbst soll eine fiktive Miniserie über die Kryptoqueen ebenfalls im ZDF ausgestrahlt werden.
Beim SWR ist ein Hörfunkprojekt in Arbeit. Zeitzeugen aus Schramberg sollen da über die Geschwister Ignatov und ihre Zeit in Schramberg berichten.